I.2.1 Die Gleichungen der evolutionären Dynamik

Dieses Kapitel fasst die wesentlichen Konzepte der deterministischen evolutionäre Spieltheorie zusammen. Die evolutionäre Spieltheorie untersucht das zeitliche Verhalten einer großen Anzahl von individuellen Spielern, der sogenannten Population (siehe [1,2,3,4]). Wir nehmen im folgenden zunächst an, dass die Population aus einer unendlichen Anzahl von individuellen Spieler besteht, die sich aus zwei separaten, unterscheidbaren Gruppen (A und B) zusammensetzt. Gegeben sei die strategische Form eines, zunächst noch unsymmetrischen (2 Personen)-(m Strategien) Spiels $\Gamma$. $x^\mu_i(t)$ ($i=1, 2, ..., m_\mu$ und $\mu=A,B$) seien die zeitabhängigen, gemittelten Anteile der Spieler innerhalb der Spielergruppe $\mu=A,B$, die die Strategie i wählen. Diese gruppenspezifischen Populationsvektoren ($\vec{x}^A(t)=(x^A_1(t), x^A_2(t), ..., x^A_{m_A}(t))$ und $\vec{x}^B(t)=(x^B_1(t), x^B_2(t), ..., x^B_{m_B}(t))$) unterliegen folgenden Normalisierungsbedingungen: \[ \begin{equation} x^\mu_i(t) \geq 0 \quad \mbox{und} \quad \sum_{i=1}^{m_\mu} x^\mu_i(t) = 1 \quad \forall \,\, i=1, 2, ..., m_\mu \,\, , \,\, t \in ℝ , \,\, \mu=A, B \end{equation} \] Die gesamte Population spielt zu jedem Zeitpunkt das gleiche Spiel, wobei sich die einzelnen Spieler der Gruppe A mit Spielern der Gruppe B zufällig paaren, das simultane Spiel spielen, ihre erzielten Auzahlungen erhalten und dann erneut zufällig paaren. Eine Miteinbeziehung von zugrundeliegenden komplexen Netzwerkstrukturen, die eine nicht-zufällige Paarung in die Beschreibung mitaufnehmen, bzw. die Betrachtung einer endlichen Spielerpopulation erfordert meisst eine nicht analytische, nummerisch simulative Beschreibung; dies wird Gegenstand der Untersuchungen im Teil II und Teil III dieser Vorlesung sein.
Die zeitliche Veränderung der Populationsvektoren $\vec{x}^A(t)$ und $\vec{x}^B(t)$ spiegelt die in der Gruppe vorherschende Strategienwahl zum Zeitpunkt $t$ wider und beschreibt demnach die evolutionäre Dynamik der interagierenden Menschengruppen. Die maßgeblichen Faktoren, die die evolutionäre Entwicklung bestimmen sind der Soziobiologie entnommen und basieren auf Reproduktion, Mutation und Selektion der Strategienentscheidungen. Die zugrundeliegende mathematische Beschreibung lehnt sich an die, in der theoretischen Biologie verwendete, sogenannte Quasispezies-Gleichung (siehe [1], S: 33) an und ist ein System nichtlinearer Differentialgleichungen erster Ordnung in der Zeit. Für das zuvor definierte evolutionäre Spiel besitzt die Differentialgleichung das folgende Aussehen: \[ \begin{eqnarray} \frac{d \vec{x}^A}{dt} &=& \hat{\bf x}^A \left( \hat{\bf {\cal \$}}^A\,\vec{x}^B \right) - \left(\left(\hat{\bf {\cal \$}}^A\,\vec{x}^B \right)^T \vec{x}^A \right) \vec{x}^A \\ \frac{d \vec{x}^B}{dt} &=& \hat{\bf x}^B \left( \hat{\bf {\cal \$}}^B\,\vec{x}^A \right) - \left(\left(\hat{\bf {\cal \$}}^B\,\vec{x}^A \right)^T \vec{x}^B \right) \vec{x}^B \quad , \end{eqnarray} \] wobei $\hat{\bf x}^\mu:={\rm diag\!}\left( x^\mu_1(t), x^\mu_2(t), ..., x^\mu_{m_\mu}(t) \right)$, bzw. in expliziter Formulierung: \[ \begin{eqnarray} \frac{d x^A_i(t)}{dt} &=& \left[ \underbrace{\sum_{l=1}^{m_{\small B}} \$^A_{il} \, x^B_l(t)}_{\hbox{Fitness der Strategie i}} - \underbrace{\sum_{l=1}^{m_{\small B}} \sum_{k=1}^{m_{\small A}} \$^A_{kl} \, x^A_k(t) \, x^B_l(t)}_{\hbox{Durchschn. Fitness der Population A}} \right] \, x^A_i(t) \qquad \hbox{(1)}\\ \frac{d x^B_j(t)}{dt} &=& \left[ \underbrace{\sum_{l=1}^{m_{\small A}} \$^B_{lj} \, x^A_l(t)}_{\hbox{Fitness der Strategie j}} - \underbrace{\sum_{l=1}^{m_{\small A}} \sum_{k=1}^{m_{\small B}} \$^B_{lk} \, x^A_l(t) \, x^B_k(t)}_{\hbox{Durchschn. Fitness der Population B}} \right] \, x^B_j(t) \quad , \end{eqnarray} \] wobei $x^A_i(t), \, i=1, 2, ...,m_{\small A}$ und $x^B_j(t), \, j=1, 2, ...,m_{\small B}$ die Anteile der in den Spielergruppen A und B zur Zeit $t$ gewählten Strategien widerspiegeln und in der Soziobiologie den Frequenzen der Quasispezies entsprechen.
Wir beschränken uns im folgenden auf den 2-Strategien Fall ($m_{\small A}=m_{\small B}=2$), lassen jedoch weiter eine Unsymmetrie der Auszahlungsmatrix zu. Die beiden Komponenten der zweidimensionalen gruppenspezifischen Populationsvektoren lassen sich dann, aufgrund ihrer Normalisierungsbedingung, auf eine Komponente reduzieren ($x^A_2=1-x^A_1$ und $x^B_2=1-x^B_1$). Das zeitliche Verhalten der Komponenten der Populationsvektoren (Gruppe A: $x(t):=x^A_1(t)$ und Gruppe B: $y(t):=x^B_1(t)$) wird in der Reproduktionsdynamik mittels des folgenden Systems von Differentialgleichungen beschrieben (siehe z.B. [4], S:116 oder [3], S:69): \[ \begin{eqnarray} \frac{d x(t)}{dt} &=& \left[ \left( \$^A_{11} + \$^A_{22} - \$^A_{12} - \$^A_{21} \right) \,y(t) + \left( \$^A_{12} - \$^A_{22}\right) \right] \,\left( x(t) - \left( x(t) \right)^2 \right) \, =: \, g_A(x,y) \qquad \hbox{(2)}\\ \frac{d y(t)}{dt} &=& \left[ \left( \$^B_{11} + \$^B_{22} - \$^B_{12} - \$^B_{21} \right) \,x(t) + \left( \$^B_{12} - \$^B_{22}\right) \right] \,\left( y(t) - \left( y(t) \right)^2 \right) \, =: \, g_B(x,y) \end{eqnarray} \] Nimmt man zusätzlich ein symmetrisches Spiel an ($\hat{\bf {\cal \$}} := \hat{\bf {\cal \$}}^A = \left( \hat{\bf {\cal \$}}^B \right)^{\!T}$), in welchem die Auszahlungswerte (Fitness-Werte) der Populationsgruppen gleich sind, so kann man die beiden Gruppen von ihrer mathematischen Struktur her als ununterscheidbare Spielergruppen mit identischen Populationsvektoren $x(t)=y(t)$ annehmen. Die Differentialgleichung schreibt sich dann wie folgt: \[ \begin{equation} \frac{d x(t)}{dt} = \left[ (\$_{11} - \$_{21}) (x-x^2) + (\$_{12} - \$_{22}) (1-2x+x^2) \right] \, x(t) \, =:\,g(x) \qquad \hbox{(3)} \end{equation} \] Verallgemeinert man diese Differentialgleichung wieder auf mehr als zwei Strategien, so kann man abkürzend die folgende Formulierung schreiben: \[ \begin{equation} \frac{d \vec{x}}{dt} = \hat{\bf x} \left( \hat{\bf {\cal \$}}\,\vec{x} \right) - \left(\left(\hat{\bf {\cal \$}}\,\vec{x} \right)^T \vec{x} \right) \vec{x} \end{equation} \]